Die sogenannte Legasthenie bei Erwachsenen
Über die "Legasthenie" gibt es eine verbreitete Meinung und die ist falsch:
es handle sich um eine Art Krankheit.
In dieser Vorstellung werden unser alfabetisches Schriftsystem und sämtliche Bedingungen, unter denen Kinder
es erlernen müssen, gleichgesetzt mit einer Art Naturgesetz, wie das Funktionieren eines Organismus.
Auch hier schauen wir lieber genau hin: Welche Schwierigkeiten bereitet das Zeichensystem?
Das alfabetische Schriftsystem ist so organisiert, dass es Zugänge von verschiedenen Seiten her erlaubt:
- von den Lauten
- der Wortbedeutung
- der Zeichengestalt oder dem Wortbild
- dem grammatischen Bau
Dieser Organisation entsprechen auf der Seite des Lernenden die verschiedenen Orientierungen,
die er nutzen muss,
um sich im Labyrinth der Zeichen zurechtzufinden:
- die Wahrnehmung der Artikulation und die Gliederung des Lautstromes
- das Gefühl für Wortverwandtschaften und Analogien
- die visuelle Analyse und die motorische Umsetzung
- das Verständnis für grammatische Strukturen des Wortes und des Satzes
Wie die Lernenden diese Zugänge nutzen, hängt von ihren individuellen Voraussetzungen und vom Unterricht ab.
Einen Königsweg gibt es nicht. Je leichter und schneller aber die diversen Orientierungen miteinander verknüpt
werden können, desto effektiver ist der Lernprozess. Wenn diese Integration in der frühen Phase des
Schriftspracherwerbs nicht in Gang gekommen ist, wenn sie langsam und mühselig blieb, verfestigt sich die
Unsicherheit. Die visuelle Orientierung am Wortbild wird dauerhaft bevorzugt, ohne dass die anderen Orientierungen
als verlässliche Gedächtnisstützen fungieren.
Die Folge: selbst wenn viel gelesen wird, bleibt die Rechtschreibung auch im Erwachsenenalter unsicher und fast
immer sind das laute Lesen und das Schreiben mit Ängsten besetzt.
|